Der geschichtliche Hintergrund
In den chaotischen letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs flohen Millionen Soldaten, die in der Uniform des Dritten Reichs in den Krieg gezogen waren, vor der herannahenden Roten Armee. Einige erlitten Schiffbruch auf der Ostsee und wurden an die schwedische Küste getrieben. Andere nahmen bewusst Kurs Richtung Schweden, das im Krieg neutral geblieben war. Nach internationaler Konvention wurden sie hierzulande in (insgesamt sieben) Lagern interniert. Die meisten Männer waren im Alter zwischen 20 und 30 und hatten mehrere Jahre Krieg hinter sich. Aber auch Minderjährige waren dabei, die in den letzten Kriegsmonaten noch eingezogen worden waren.
Bereits auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hatten die Alliierten vereinbart, dass deutsche Soldaten an die Front zurückgeschickt werden sollten, von der sie geflohen waren. Einen Monat nach Kriegsende fragte die Sowjetunion bei der schwedischen Übergangsregierung unter Per Albin Hansson an, wie Schweden mit den Soldaten in deutscher Uniform zu verfahren gedenke. Der Ministerpräsident antwortete prompt, man werde alle Männer ausliefern – obwohl die Sowjetunion dies gar nicht gefordert hatte und obwohl Schweden als neutrales Land nicht an die Vereinbarung von Jalta gebunden war. Dieser Beschluss wurde mit unmittelbarer Wirkung geheim gestempelt. Keiner der internierten Soldaten bekam Kenntnis davon.
Die Internierungslager
Die Stimmung in den Internierungslagern im Sommer 1945 war durchweg gut. Die Erleichterung über das Kriegsende war mit Händen zu greifen. Alle hofften, bald zu ihren Familien in der Heimat zurückkehren zu können.
Zum Zeitvertreib halfen die Soldaten bei den täglich im Lager anfallenden Arbeiten mit: Essen vorbereiten, abwaschen, putzen. Manche machten sich als Frisöre verdient, andere als Schneider. Aber auch außerhalb des Lagers machten sie sich nützlich, z.B. bei der Anlage eines Notflughafens auf der Strecke Göteborg-Oslo oder bei Befestigung von Straßen und Wegen in der Umgebung.
In der Freizeit wurden Theaterstücke aufgeführt, Musik gemacht, Spiele gespielt, Filme gezeigt. Auch Vorträge und Kurse wurden angeboten, die ein breites Spektrum von existenziellen Themen bis hin zu moderner Kunst abdeckten. In Backamo gab es auch eine Bibliothek, die von der Deutschen Gemeinde in Göteborg bestückt wurde.
Noch bis in den Herbst hinein waren die Internierungslager kaum bewacht; eine Flucht wäre jederzeit möglich gewesen.
Das änderte sich erst in der letzten Novemberwoche 1945, als der Auslieferungsbeschluss der schwedischen Regierung vom Sommer bekannt wurde. Die Soldaten, für die eine Auslieferung an die Sowjetunion gleichbedeutend mit dem sicheren Tod war, traten in den Hungerstreik, einige brachten sich schwere körperliche Schäden bei in der Hoffnung, so dem Schicksal der Auslieferung zu entgehen, andere versuchten sich das Leben zu nehmen, einige versteckten sich; nur wenigen gelang die Flucht. Der 30. November 1945 ging als „Blutiger Freitag von Backamo“ in die Geschichte ein.
In ganz Schweden protestierten Menschen gegen das Handeln ihrer Regierung. König Gustav V wandte sich persönlich mit einem Gnadengesuch an Stalin. Der Proteststurm galt allerdings v.a. den gut 150 baltischen Soldaten, die in der Uniform des Dritten Reichs in den Krieg gezogen waren. Nach der Entdeckung und Befreiung der Konzentrationslager durch die Alliierten und nach Bekanntwerden des ganzen Ausmaßes des Holocaust hatten viele Schweden wenig Mitleid mit den deutschen Soldaten. Aufgrund der Massenproteste, die von der politischen Linken allerdings auch scharf kritisiert wurden, wurden im Dezember 1945 zunächst nur unverletzte, deutsche Soldaten ausgeliefert.
Das Wirken Hermann Kiesows
Der 38jährige Hermann Kiesow wurde im Sommer 1945 von der schwedischen Regierung zum Lagerpfarrer für Backamo und das wesentlich kleinere, nahe gelegene Grunnebo in Bohuslän ernannt. Aufgrund seiner offen kritischen Haltung gegenüber dem Dritten Reich war der gebürtige Schleswig-Holsteiner 1934 von der Kirchenleitung in Kiel auf die Pfarrstelle der Deutschen Gemeinde in Göteborg entsandt worden. In dieser Position während des Dritten Reichs auch politische und kirchliche Vertreter Nazi-Deutschlands empfangen und bewirten zu müssen, beschrieben sowohl er als auch seine schwedische Frau Gunvor als große Herausforderung. Gleiches galt für die Seelsorge an den internierten Soldaten, unter denen neben Unschuldigen auch Kriegsverbrecher und überzeugte Nationalsozialisten waren.
Gleichwohl nahm Hermann Kiesow seinen Auftrag so ernst, dass er seine familiären und gesundheitlichen Bedürfnisse dahinter zurückstellte. Regelmäßig fuhr er zu Gottesdiensten, Vorträgen und Gesprächen in die Lager. Der Hunger der Männer nach geistlicher Nahrung war nach all den Jahren, in denen Gottesdienste nahezu verboten gewesen waren, riesig. Zwei 16jährige wurden in Backamo konfirmiert.
Während der dramatischen Ereignisse rund um die Auslieferung wich Hermann Kiesow nicht von der Seite der Soldaten, sprach Mut zu, tröstete, spendete Hoffnung, nahm persönliche Habseligkeiten der Männer in Gewahrsam, leitete Briefe an die Angehörigen in Deutschland weiter. Im Dezember und Januar besuchte er die, die wegen ihrer Verletzungen nicht ausgeliefert werden konnten, in den Krankenhäusern, feierte an mehreren Orten Weihnachtsgottesdienste. Als Anerkennung für seinen unermüdlichen Einsatz schenkten einige Internierte ihm ein Eisenkreuz, das er zeitlebens trug.
Bereits im September 1945 war Hermann Kiesow mehrere Wochen krank wegen Überanstrengung. Im Februar 1946 erkrankte er erneut. Was er in den Internierungslagern erlebt hatte, prägte ihn für den Rest seines Lebens. Noch bis in die 60er Jahre engagierten er und Gunvor sich für notleidende Kinder in Deutschland; dafür erhielt er auch das Bundesverdienstkreuz.
Nach 41 Jahren als Pfarrer der Deutschen Gemeinde ging Hermann Kiesow in den Ruhestand, verstarb aber bald danach im Alter von 75 Jahren. Sein Grab ist bis heute auf dem Friedhof Stampen unweit der Deutschen Kirche zu finden.
Abschluss der Auslieferungen
Je mehr Zeit verging, desto nachdrücklicher wurde – nach der anfänglich vorsichtigen Anfrage – die sowjetische Forderung nach Auslieferung aller in Schweden internierten Soldaten. Zu diesem Zweck schickte die sowjetische Regierung zweimal, kurz vor Weihnachten 1945 und Ende Januar 1946, das Krankentransportschiff Beloostrov nach Trelleborg, das auch den Abtransport der verwundeten Internierten ermöglichte. Damit wuchs auch der Druck auf die schwedische Regierung, die baltischen Soldaten nicht länger zurückzuhalten.
Über die Gründe, warum Schweden – anders als etwa Dänemark – entgegen internationalem Recht und ohne Einzelfallprüfung der Auslieferung der Soldaten zustimmte, ist viel spekuliert worden, zumal die Archive viele Jahrzehnte lang nicht zugänglich waren. Als ein Motiv wurde die Angst vor der Reaktion der Sowjetunion auf eine Weigerung der schwedischen Regierung angeführt. V.a. von der politischen Linken wurde argumentiert, man könne die Forderungen der Sowjetunion nicht anders behandeln als die der Westalliierten, an die man ohne zu zögern auslieferte, zumal der große Nachbar im Osten für den Sieg über Nazi-Deutschland die mit Abstand meisten Opfer gebracht habe.
Die Zeit danach
Im zerstörten Nachkriegsdeutschland, ebenso wie in der Sowjetunion, fehlten in den Familien die Ehemänner, die Väter, die Söhne, ... – die tatkräftigen Hände, die das Land schnell wieder aufbauen konnten. In den Jahren 1946-47 wandten sich die Angehörigen der in Schweden internierten Soldaten in großer Zahl an Hermann Kiesow in der Hoffnung, durch ihn etwas über den Verbleib ihrer Liebsten erfahren zu können.
Von Trelleborg aus wurden die Internierten in drei Etappen mit sowjetischen Schiffen in das lettische Libau gebracht. Die meisten von ihnen verblieben im Baltikum, wo sie zum Wiederaufbau der zerstörten Industrie und der Werften herangezogen wurden. Nur die höheren Offiziere wurden weiter nach Osten geschickt.
Diejenigen, die zu krank zum Arbeiten waren, wurden noch im selben Jahr 1946 in die Heimat entlassen. Die meisten verbrachten zwischen drei und fünf Jahren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, manche wurden jedoch erst Mitte der 50er Jahre freigelassen, viele stark unterernährt. Schätzungen von Historikern zufolge überlebte etwa ein Drittel die Strapazen in den Arbeitslagern nicht.
Trotz der über 600 Briefe und der detaillierten Aufzeichnungen von Hermann Kiesow liegt vieles rund um diese einschneidende Epoche in der Geschichte der Deutschen Gemeinde in Göteborg weiterhin im Dunkel. Wissen Sie mehr über das Schicksal einzelner Internierter? Wissen Sie, wer die Figuren der Weihnachtskrippe anfertigte, die einige der Internierten von Backamo der Gemeinde zum Dank für ihren Einsatz schenkten? Wenn Sie über Informationen verfügen, die Sie mit uns teilen können, wenden Sie sich bitte an Pfarrer Christoph Gamer.
Die Deutsche Gemeinde in Göteborg dankt der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Stockholm und der Evangelischen Kirche in Deutschland für die finanzielle Unterstützung sowie dem Team von Ehrenamtlichen, die die Briefe transkribiert haben, für ihr unermüdliches Engagement, ohne das diese Ausstellung nicht zu realisieren gewesen wäre.