Rede zur Ausstellungseröffnung am 2. Juni 2023

Frau Dr. Clarissa Blomqvist von der Deutschen Botschaft sprach am 2. Juni 2023 zur Wiedereröffnung der Ausstellung "Ein Schrei nach Hilfe!"

Rede zur Wiedereröffnung der Ausstellung ”Ein Schrei nach Hilfe: Ausstellung zum Gedenken an die Auslieferung deutscher und baltischer Soldaten an die Sowjetunion 1945-1946" in der Deutschen Christinenkirche in Göteborg, den 2. Juni 2023

Lieber Pfarrer Christoph Gamer, liebe Anwesenden,

Es ist mir eine große Ehre, heute bei der Wiedereröffnung der Ausstellung „Ein Schrei nach Hilfe“ hier in der traditionsreichen deutschen Christinenkirche während der Jubiläumswoche in Göteborg sprechen zu dürfen.

Die Ausstellung ist einzigartig, wichtig und zeitlos. Es ist gut, dass sie erneut gezeigt wird und nach den Pandemiejahren nun das Publikum und die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient.

Die Briefe an den damaligen Pfarrer der Gemeinde, Hermann Kiesow, die sich im Archiv der Deutschen Kirche befanden und nun in einem erläuternden Kontext ausgestellt werden, sind wichtige historische Dokumente, die uns einen Einblick in die Gefühle, Ängste und Hoffnungen der Menschen in einer Zeit großer Angst und Unsicherheit geben. Die Briefe an Pfarrer Hermann Kiesow zeugen von schrecklichen Erlebnissen deutscher und baltischer Soldaten, aber auch vom Trost und Halt, den sie in ihrem Glauben und in der Kirche suchten und fanden, zum großen Teil dank Pfarrer Kiesows.

Die Ausstellung erinnert uns an ein dunkles Kapitel der Geschichte und unterstreicht gleichzeitig die Bedeutung von Menschlichkeit und Solidarität.

Es ist herzzerreißend, die Briefe zu lesen, die jetzt in der Ausstellung ausgestellt sind. Es handelt sich um Briefe von internierten Soldaten, die Pfarrer Kiesow für seine Besuche im Gefangenenlager danken, für seine Gottesdienste und seine Unterstützung. Es sind verzweifelte Briefe von Internierten, die erfahren hatten, dass sie abgeschoben würden. Es sind Abschiedsbriefe an geliebte Menschen in Deutschland, die Pfarrer Kiesow weiterleiten sollte. Und es sind Briefe von Angehörigen der Soldaten, die ihre Sorgen und Trauer mitteilen. 

Es ist herzzerreißend, die Briefe zu lesen, denn wenn man von den näheren Umständen absieht, wenn man absieht von der Frage, ob die Abschiebung richtig war oder hätte verhindert werden müssen, wenn man absieht von der Frage, ob es sich bei den Inhaftierten um Soldaten handelte, denen keine andere Wahl blieb, als in deutscher Uniform zu kämpfen oder ob sie Kriegsverbrecher waren, wenn man von all diesen Fragen absieht und nur die persönlichen Briefe liest, dann bleibt nur noch der einzelne Mensch und sein Schicksal übrig. Dann bleibt nur noch die Frage übrig, warum man sterben muss, viel zu früh wie im Fall des 16-jährigen Soldaten, viel zu weit weg von zu Hause und ohne Abschied von der Familie.

Aber es ist auch herzerwärmend, die Briefe zu lesen. Sie zeugen von Dankbarkeit und Liebe, von Gefühlen, die trotz der schrecklichen Erlebnisse der Kriegsjahre bestehen geblieben sind.

Vielen Dank an alle, die diese Ausstellung ermöglicht haben, die im Archiv der deutschen Kirche gestöbert haben, die Briefe transkribiert und kategorisiert und einen hervorragenden Katalog zusammengestellt haben, um ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der deutschen Gemeinde zu beleuchten und ein bisher nicht besonders bekanntes Thema an die Öffentlichkeit bringen. Vielen Dank, dass Sie weiterhin daran arbeiten, Ihre Funde einem größeren Publikum zugänglich zu machen, in diesem Sommer insbesondere jungen Menschen. Durch den Einblick in die Briefe aus dem Kirchenarchiv wird Geschichte verständlicher. Menschen, die nicht mehr unter uns sind, wird durch die Briefe eine Stimme gegeben, und eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird hergestellt. Hoffentlich können diese historischen Dokumente jungen Menschen helfen, eine bessere Zukunft zu schaffen.

Als die damalige deutsche Botschafterin in Schweden, Dr. Anna Prinz, vor zwei Jahren die Ausstellung eröffnete, betonte sie, dass die Briefe der Gefangenen und das Wirken von Pfarrer Kiesow uns insbesondere lehren, dass es auf die Zuversicht und die Verantwortung des Einzelnen ankomme. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und einer langen Zeit des Friedens, so sagte die Botschafterin damals, sei es wichtig, dass wir uns an unsere eigene Verantwortung erinnern, die Demokratie zu wahren, unsere gemeinsamen Werte zu schützen und ein geeintes und friedliches Europa zu bauen.

Leider hat sich unsere Welt seit etwas mehr als einem Jahr radikal verändert. Der lange Frieden ist gebrochen und erneut herrscht Krieg in Europa. Zwei Jahre nach der ursprünglichen Ausstellungseröffnung ist der Aufruf daher aktueller denn je:

Die Briefe und das Wirken von Pfarrer Kiesow lehren uns, dass der Einzelne Verantwortung trägt. Es liegt in unserer Verantwortung, die Demokratie zu wahren, unsere gemeinsamen Werte zu schützen und ein friedliches und geeintes Europa zu bauen.

 

Vielen Dank!