Predigt
Vor einigen Jahren bin ich mal gefragt worden, was mein Lieblingstext in der Bibel ist.
Ich sollte ihn mit der Hand abschreiben für eine Stadtbibel.
Viele, viele Menschen haben sich damals beteiligt. Und bis heute kann man im Neumünsteraner Rathaus, in der Mitte von Schleswig-Holstein, darin blättern: Die Bibel für die Stadt von der Stadt. Das Geschenk der Kirchengemeinden zum Stadtjubiläum.
Die Geschichte, die ich damals abgeschrieben habe, ist die Geschichte von Maria Magdalena, die dem auferstandenen Jesus am Grab begegnet.
Ich kann bis heute nicht genau sagen, warum mir diese Geschichte so wichtig ist.
Und manchmal macht man den Zauber einer Erzählung ja auch durch zu viel Erklären kaputt.
Aber ich mag die Geschichte, weil sie so geheimnisvoll und zärtlich ist.
Weil so viel Nähe zwischen Jesus und Maria zu spüren ist, so viel Ernsthaftigkeit und Liebe, und auch weil keine andere Person da ist und stört.
Eine Frau, eine Apostelin, ist da mit dem Auferstandenen, als erste am Grab, und bekommt als Frau, als Apostelin, als erste von allen den Auftrag: Sag weiter, was du gesehen und erlebt hast.
Das gibt es so an keiner anderen Stelle in der Bibel.
Ich mag an der Geschichte, dass Jesus Maria ernster nimmt als alle anderen Jünger, als alle anderen Theologen durch zweitausend Jahre Geschichte.
Und so, durch Maria, habe ich auch immer irgendwie ein Recht auf eine solche Nähe zu Jesus gespürt. Auch wenn mir in meinem Leben viele Menschen – Männer wie Frauen – das Gefühl gegeben oder es auch deutlich ausgesprochen haben: Frauen haben in der Verkündigung oder auf der Kanzel nichts zu suchen.
Ist Männersache. Schon immer gewesen.
Petrus der Felsen - Maria die Hure, die Sünderin.
Klar war sie mit den anderen Frauen irgendwie zuerst am Grab. Aber der Auftrag, das Amt, der Vorsitz ging an Petrus.
Nun stehe ich ja auf der Kanzel und gehöre zu einer Generation, die es sich auch nicht erkämpfen musste. Aber nur eine Generation weiter geschaut, in die Generation meiner Mutter, war das gar nicht selbstverständlich.
Und warum erzähle ich euch das heute?
Ich erzähle euch das, weil wir eben einen anderen Text aus dem Johannesevangelium gehört haben, der von einer Auferstehung handelt. Von der Auferstehung des Lazarus, das ist offensichtlich, aber seit ca. zwei Jahren handelt er auch von der Auferstehung der Maria Magdalena.
Sie war nicht gestorben und ist nicht von Jesus auferweckt worden. Aber sie ist für viele hundert Jahre in diesem Text versteckt worden. “Hidden in plain sight” sozusagen. Da - und doch unsichtbar gemacht.
Davon will ich heute ein bisschen erzählen.
Das ist jetzt so eine Art Detektivgeschichte und ich gehe nicht zu sehr ins Detail, weil ihr vielleicht nicht alle solche Bibelnerds seid wie ich. Aber vielleicht mögt ihr ja Detektivgeschichten.
Eine Theologin, Libbie oder Elisabeth Schrader aus den USA wollte mehr über Maria Magdalena herausfinden. Und sie hat über diesen Text – die Auferstehung des Lazarus – vor ein paar Jahren ihre erste wissenschaftliche Arbeit geschrieben.
Und wenn man richtig wissenschaftlich mit diesen Bibeltexten forscht, dann guckt man natürlich ins Original. Das sind alte Handschriften, und die sind auf Griechisch geschrieben.
Das Problem ist, es gibt viele alte Handschriften, und sie unterscheiden sich manchmal. Inzwischen kann man sie ganz gut datieren, also welche Handschrift wie alt ist. Nur liegen sie natürlich gut verschlossen und konserviert in irgendwelchen Bibliotheken. Man muss Geld haben, um zu reisen. Und das haben nicht alle, die diese Texte gerne lesen wollen.
ABER: Libbie Schrader hatte Glück. Gerade als sie mit ihrer Arbeit anfangen wollte, waren die ältesten Handschriften zum Johannesevangelium, sie stammen aus dem 2. Jahrhundert nach Christus, digitalisiert worden. Sie konnte den Text also bequem zu Hause am Computer lesen, vergrößern etc.
Und dort, an ihrem Computer, hat sie eine ungewöhnliche Entdeckung gemacht:
Lazarus hat nicht zwei Schwestern, sondern eine: Maria.
Es gibt – zumindest hier in dieser Geschichte – keine Martha.
Jemand hatte im Nachhinein viele Stellen im Manuskript übermalt. Aus der Maria manchmal eine Martha gemacht, aus einer Schwester zwei. Das ist ganz einfach. Man muss nur einen Buchstaben verändern, aus dem i von der Maria ein griechisches ”theta” (th) machen, dann ist es eine Martha.
Warum macht jemand so etwas?
Vielleicht, so scheint es auf den ersten Blick, weil es den Beginn des Textes weniger holprig macht. Dort doppelt sich der Name Maria irgendwie komisch.
Vielleicht, weil es im Lukasevangelium auch so ein Schwesternpaar gibt, Maria und Martha, und es erst einmal mehr Sinn macht. Nur wohnen diese beiden Schwestern gar nicht in Bethanien, und sie haben auch keinen Bruder namens Lazarus. Es sind völlig andere Personen.
Aber bei den vielen Marias in den Evangelien kann man schon einmal durcheinanderkommen.
Maria, die Mutter von Jesus, Maria, die Schwester vor Martha im Lukasevangelium, Maria Magdalena, dann noch eine Maria, die als ”die andere Maria” bezeichnet wird, sie ist bei den Frauen, die am Ostermorgen zum Grab gehen und noch so einige andere.
Es war ein beliebter Name damals. So wie es in jeder Klasse oder Gruppe in meiner Schulzeit immer eine andere Katja gab.
In diesem Text also Maria aus Bethanien, Schwester des Lazarus.
Und in den letzten zwei Jahren haben sich viele Wissenschaftler mit dieser Maria beschäftigt, und alle sind sich einig: Libbie Schrader hat etwas Sensationelles entdeckt, und vielleicht müssen unsere Bibeln umgeschrieben werden.
Aber was ist jetzt so sensationell daran, dass es nur eine Schwester ist und nicht zwei?
Dazu müssen wir in die Mitte des Textes gucken.
Denn jetzt ist es nicht mehr Martha, sondern Maria, die mit Jesus auf dem Weg spricht. Es ist Maria, die sagt:
»Herr, wenn du hier gewesen wärst,
dann wäre mein Bruder nicht gestorben. (…)
Und Jesus sagt zu Maria:
»Ich bin die Auferstehung und das Leben!
Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. (…)
Glaubst du das?«
Und Maria, nicht irgendeine Martha, die sonst keine große Rolle spielt, spricht dieses Bekenntnis:
»Ja, Herr, ich glaube fest:
Du bist der Christus, der Sohn Gottes,
der in die Welt kommen soll!«
Ein Christusbekenntnis in der Mitte des Evangeliums. Das Zentrum des Buches. Wie im Markusevangelium das Bekenntnis des Petrus das Zentrum des Buches ist.
Nur diesmal von einer Frau: Maria aus Bethanien.
Petrus bekommt an dieser Stelle bei Markus und bei Matthäus seinen Ehrentitel ”der Felsen” verliehen.
Was ist mit Maria aus Bethanien?
Das ist das letzte Puzzlestück in der Detektivgeschichte: Der Ehrentitel von Maria aus Bethanien ist ”Magdala”.
Denn, auch das ist inzwischen historisch und archäologisch belegt: Magdala, den Ort, gab es zu der Zeit von Jesus und Maria noch gar nicht. Was es aber gab, ist das aramäische Wort für Turm: “Magdala”. Und aramäisch ist die Muttersprache von Jesus und Maria. Petrus der Felsen - Maria der Turm.
Das würde bedeuten: Maria Magdalena ist
1. Augenzeugin der Kreuzigung Jesu (das wussten wir schon vor Schraders Entdeckung)
2. Augenzeugin der Auferstehung Jesu (auch das wussten wir schon)
3. (das ist neu!) Sie spricht eins der wichtigsten Bekenntnisse in den Evangelien, mindestens so wichtig wie das des weitaus berühmteren Petrus: „Ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.“ (Das hielten wir bisher für ein Bekenntnis von Martha, die ansonsten keine wirklich große Rolle spielt.)
4. (auch neu!) ist Maria „Magdalena“ keine Angabe ihrer Herkunft, sondern ein bedeutender Ehrentitel: „Maria der Turm“, vergleichbar mit „Petrus der Fels”
5. Daraus folgt: Beide Personen mit ihren Bekenntnissen sind jeweils das Zentrum eines Evangeliums.
Als ich von diesen neuen theologischen Erkenntnissen vor ca. zwei Jahren erfahren habe, hat es mich sehr berührt und aufgewühlt, und das tut es bis jetzt.
Denn es ist nicht mehr nur mein Gefühl, sondern echte belegte Wissenschaft, dass Maria Magdalena eine wichtige Rolle an der Seite von Jesus zukommt.
Sie ist nicht mehr nur die Sünderin, der vergeben wird, oder die Frau, die am Grab weint.
Sie ist ein offizielles und nicht nur mein Vorbild im Glauben, gleichrangig mit dem wichtigsten Apostel: eine Frau ohne Ehemann, ohne Kinder, die beste Freundin Jesu.
Mit einem großen und verletzlichen Glauben.
Eine, die ihrem eigenen und Jesu Schmerz ins Auge sehen konnte. Die geblieben ist. Die letzte am Kreuz, die erste am Grab.
Die wie ein Turm war, wie ein weit sichtbarer und sicherer Ort.
Wie schön wäre es gewesen, wenn ich davon schon früher erfahren hätte, ich und viele andere Mädchen und Frauen. Im Kindergottesdienst z.B. oder aus meiner Kinderbibel. Ich stelle mir vor, sie hätten mir so von ihr erzählt. Sie hätten gesagt: Sie ist ein Vorbild. Glaube wie sie. Weiche dem Schmerz nicht aus und nicht der Liebe. Sei sichtbar! Sei groß! Hab in dir Platz für vieles…
Das hätte einen echten Unterschied gemacht. Für mich und viele andere Mädchen und Frauen.
Stattdessen wurde sie kleingeredet. Übermalt. Und als Apostelin seit Jahrhunderten vor uns versteckt!
Wenn ihr mich heute nach meinem Lieblingstext in der Bibel fragt, dann würde ich wohl immer noch antworten: Joh 20, ”Maria Magdalena begegnet Jesus, dem Auferstandenen, am Grab”.
Und ich mag ihn immer noch, weil er geheimnisvoll, poetisch und zärtlich ist. Aber dicht daneben steht seit einiger Zeit Joh 11, ”Die Auferweckung der Maria”, nicht des Lazarus (für mich zumindest).
Weil dieser Text ihr ihre Größe und Bedeutung an der Seite von Jesus zurückgibt, die viele schon immer geahnt haben.
Ich bin gespannt, wann die ersten Bibeln umgeschrieben werden!
Aber bis dahin können wir es sein, die von ihr erzählen:
Von Maria, dem Turm, Apostelin und Vorbild im Glauben. Amen.
*
Mit großem Dank an die drei Theologinnen Elisabeth Schrader, Diana Butler Bass und Birgit Mattausch, die mich zu dieser Predigt inspiriert haben!!
Hier gibt es mehr von ihnen dazu zu lesen:
Mary the Tower - by Diana Butler Bass - The Cottage (substack.com)
Maria der Turm | evangelisch.de